Joseph Haydns Oratorium »Die Schöpfung«

Vor 221 Jahren, im April 1798, führte Joseph Haydn sein Oratorium Die Schöpfung in Wien zum ersten Mal auf, zunächst für geladene Gäste, die zum großen Teil die Entstehung dieses Werkes sehr großzügig finanziert hatten, und bald darauf für die breite Öffentlichkeit. Schon allein dieser Entstehungsprozess ist für unsere heutige Zeit und zumindest für die sogenannte klassische Musik ziemlich unvorstellbar. Oder welcher „elitäre“ Freundeskreis in einer europäischen Hauptstadt finanziert einen Komponisten über längere Zeit und ermöglicht ein bahnbrechendes und erfolgreiches „europäisches“ Werk?

Denn wie wir aus unterschiedlichen Quellen wissen, war das nicht nur ein musikalisches Ereignis für die Wiener, sondern geradezu ein gesellschaftliches Spektakel, das bald weite Kreise in ganz Europa zog. Die Menschen waren von der Schöpfung gebannt, wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde, dass hier eine Musik entstanden war, wie sie niemand je zuvor gehört oder geschrieben hatte.

2019 singt der Stadtsingechor zu Halle offenbar zum ersten Mal in seiner Geschichte die Schöpfung. Wir singen und hören von der Erschaffung der Welt, von den ersten Pflanzen und Tieren, von den Wundern des Lebens, von Adam und Eva und vom Lob und Preis des Schöpfers und nähern uns so Schritt für Schritt der Schöpfungsgeschichte an, wie sie die Bibel im Ersten Buch Mose erzählt.

Im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, die sicherlich für jeden Sänger des Chores ein Bildungsthema sein wird, war die Gewissheit, dass die Welt in sechs Tagen geschaffen wurde, längst ins Wanken geraten. Grundton des Textes und der Musik dieses Oratoriums ist darum wohl vielmehr die Freude am Leben und an der Schöpfung: „Und Gott sah, dass es gut war.“ Ein wenig besteht die Hoffnung, dass die Sänger des Stadtsingechores mit diesem Werk nicht nur seine unglaubliche Musik wahrnehmen, sondern auch, dass die Bilder und Erzählweisen zur Erschaffung oder Entstehung der Welt viel von uns selbst, der jeweiligen Zeitepoche und unseren eigenen Anschauungen verraten.

Am Beginn des Werks steht das Chaos, biblisch auch „Tohuwabohu“ genannt. Chaos, ursprünglich ein Begriff für gähnende Leere, kennen wir auch heute gut. Vieles ist ja im Alltag viel einfacher geworden gegenüber der Zeit Haydns, aber vieles ist auch verwirrend in unserer Zeit, chaotisch, Besorgnis erregend und entmutigend. Manchmal geht es vielen von uns so, dass sie lieber von der Er-Schöpfung sprechen möchten, als von der Schöpfung zu singen.

Ein reich gefülltes Schul- und Konzertjahr geht zu Ende, einige von unseren Sängern haben gerade ihre Abschlussprüfungen hinter sich und werden sich mit der Aufführung der Schöpfung von uns verabschieden. „Der Juni ist der neue Dezember“, hört man, dies und das muss unbedingt vor der Sommerpause noch vom Tisch. Aber nicht nur von der Erschöpfung wollen wir reden, denn wir haben als Chorgemeinschaft Großartiges erlebt im vergangenen Schuljahr: Konzerte in der Stiftskirche auf dem Petersberg und in Dresden-Loschwitz, das Bachsche Weihnachtsoratorium und eine fast unbekannte Passionsmusik, Motetten und musikalische Gottesdienste in Halle, Leipzig und Löbejün und noch viel mehr. Nun freuen wir uns auch auf eine Zeit der Ruhe. Diese Ruhe, der siebente Schöpfungstag der Bibel, fehlt aber in Haydns Schöpfung. Alles ist ständig in Bewegung, vernünftiges Tun verdrängt hier die Ruhe. Warum? Durch Ruhe wird doch jede Schöpfung eigentlich erst vollendet. Haydn und sein Textdichter Gottfried van Swieten verweigern an diesem Punkt eine Antwort oder gehen sofort in das optimistische Lob des Schöpfers über. Dieses Lob ist ja auch die vornehmlichste Aufgabe des noch fehlenden Menschen in Haydns Schöpfung – „dem Ganzen fehlte das Geschöpf, das Gottes Werke preisen soll…“ Was aber betrachten wir heute als Aufgabe des Menschen?

Haydn hat in seiner Zeit viele wissenschaftliche und technische Bewegungen, Entdeckungen und Erfindungen erleben können. Inwieweit hat ihn das beschäftigt? Wusste er von der Erstbesteigung des Mont Blanc oder vom ersten Heißluftballon, der in den Himmel stieg, beides wenige Jahre vor der Uraufführung der Schöpfung? Hat er jemals eine Dampfmaschine erlebt? Und glaubte er, der seine Frömmigkeit betonte, eigentlich wirklich, dass die Welt in sechs Tagen erschaffen wurde?

Wenn wir heute – Kinder, Jugendliche und Erwachsene – von der Schöpfung reden, dann oft im Zusammenhang mit der Sorge um ihre Bewahrung. Uns treiben Schlagworte wie Klimawandel, Kohleausstieg und Bienensterben um. Viele heutige Jugendliche gehen regelmäßig freitags auf die Straße statt in die Schule. Sie stören sich an der Ruhe der Politik angesichts ihrer ungewissen Zukunft. „Wir sind laut, weil ihr unsere Zukunft klaut!“, haben wir neulich in Halle aufgeschnappt. Die Klangpracht der Chöre Haydns folgt natürlich keiner Protest-Intention, sondern dem Dank und Preis über die gelungene Erschaffung der Welt.

Es wird unter uns auch diejenigen geben, die die Diskussion oder Klimastreiks der Schüler nur sehr bedingt nachvollziehen können. Werden wir – trotz aufeinander prallender Meinungen und daraus resultierender Verhaltensweisen – gemeinsam in Haydns Musik einen Nenner finden?

Haydn und seine Textdichter beschreiben den „gen Himmel aufgerichteten“ Menschen als „König der Natur“. Aufklärerisches und stolzes Selbstbewusstsein lesen und hören wir hier heraus. Es sei nebenbei gesagt: Wir sind froh, dass heute anders als zu zu Haydns Zeit „Mensch“ nicht unbedingt nur mit „Mann“ gleichgesetzt wird. Dabei ahnen wir, dass der Mensch die Schöpfung nicht unbedingt beherrscht, sondern riskiert sie einer unumkehrbaren Veränderung auszusetzen.

Von einem Paradies, wie diese Musik es beschreibt, sind wir weit entfernt, vielleicht noch weiter als die Verfasser der biblischen Texte und auch weiter als Haydn mit seinen Textdichtern am Ende des 18. Jahrhunderts. Es bleibt die Sehnsucht danach – und trotz allem das Lob der wunderbaren Schöpfung, das der Chor der Engel immer wieder singt.

Wir freuen uns auf die Aufführung der Schöpfung am 23. Juni und laden herzlich dazu ein.

Clemens Flämig und Cordula Timm-Hartmann

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